9. bis 13. Oktober 2016 Studienreise zur Erfahrung des inklusiven Schulsystems in Südtirol
„Die Begierde, dieses Land zu sehen, war überreif: da sie befriedigt ist, werden mir Freunde und Vaterland erst wieder recht aus dem Grund lieb und die Rückkehr wünschenswert …, da ich mit Sicherheit empfinde, dass ich so viele Schätze nicht zu eignem Besitz und Privatgebrauch mitbringe, sondern dass sie mir und andern durchs ganze Leben zur Leitung und Fördernis dienen sollen.“ (Goethe: Italienische Reise, Rom, 1. November 1786)
Unser Reiseimpuls
Im Zentrum der Grandtour der Gebildeten des 18. und 19. Jahrhunderts stand Italien mit all seiner Kunst und Wissenschaft von der Antike bis zur Gegenwart damaliger Zeit. Das waren für alle, die dieses Privileg genießen konnten, höchst prägende persönliche Erfahrungen und zugleich Fundament für die eigene Bildungsgeschichte.
Zur heutigen Grandtour für Bildung, so scheint es, gehört sicher Bozen, die nördlichste Provinz Italiens, um beobachten und erfahren zu können, wie vielleicht irgendwann einmal auch hierzulande Inklusion grundlegende und nicht mehr in Frage gestellte pädagogische Realität in Gesellschaft und Schule werden könnte. Gewissermaßen also die humane Schule mit der Seele suchend, aber auch mit der Menge der eigenen Erfahrung, mit Empathie, aber auch kritischer Distanz brachen wir nach Südtirol auf.
Wir wollten in direkten Gesprächen mit politisch Verantwortlichen und unterschiedlichen schulischen Akteuren sowie durch Unterrichtshospitationen erfahren, wie in einem Land Inklusion realisiert und wie dadurch der schulische und kulturelle Alltag bestimmt wird.
Uns war bewusst, dass Italien nicht die UN-BRK brauchte, um ein bestehendes exklusives in ein neues inklusives Schulsystem weiterzuentwickeln. Diesen Schritt gingen die Italiener, und zwar alle, bereits in den 70er Jahren. So werden dort seit rd. 40 Jahren alle Kinder gemeinsam unterrichtet: In der fünfjährigen Grundschule (1. – 5. Klasse) und der dreijährigen Mittelschule (6. – 8. Klasse). Erst mit dem 9. Schuljahr endet die Gesamtschulzeit, resp. trennen sich die Bildungswege im Prinzip in einen gymnasialen und beruflichen Weg. Italien hat also 40 Jahre Erfahrungsvorsprung an gemeinsamem Unterricht.
Die UN-BRK war deshalb für Italien einerseits Bestätigung für die bisherige Praxis und andererseits Anlass, insbesondere wohl für Südtirol, Erfahrung und Praxis der gemeinsamen Schule zu überprüfen und zu verbessern. Dazu gehören beispielsweise das Gesetz „Teilnahme und Inklusion von Menschen mit Behinderungen“ von 2015 und auch die Rahmenrichtlinien für die Grund- und Mittelschule, die nach mehrjähriger Diskussion mit allen Beteiligten zum Schuljahr 2009/10 in Kraft gesetzt wurden. Dazu zwei programmatisch grundlegende Zitate:
„Die Schule baut durch einen auf dem Grundgedanken der Inklusion bestehenden Unterricht die Haltung auf, Unterschiede der Personen und Kulturen als Bereicherung zu verstehen und dem Anderssein mit Respekt und Offenheit zu begegnen.“ (S. 17)
„Die Schülerinnen und Schüler werden in ihrer Einmaligkeit angenommen und im Hinblick auf den Erwerb der vorgesehenen Kompetenzen bestmöglich gefördert. Dies geschieht nicht durch Separierung, sondern durch persönliche Wahlmöglichkeiten und differenzierte Förderung im gemeinsamen Unterricht.“ (S. 19)
Unser Reiseimpuls war zu erfahren,
- wie die Umsetzung dieser Ziele gelingt und
- warum dort in Südtirol bzw. in Italien Konsens über ein inklusives Bildungssystem besteht und
- inwieweit diese Erfahrungen in die hiesige bildungspolitische Debatte eingebracht werden können.
Natürlich wollten wir wissen, unter welchen Rahmenbedingungen schulischer Alltag stattfindet. Frau Dr. Amhof, Vorsitzende des Bildungsausschusses des Südtiroler Landtags, informierte uns bei unserem Gespräch am 10. 10. 2016 im Südtiroler Landtag über den aktuellen Rahmen des Südtiroler Bildungssystems:
Der Gesamthaushalt des Landes beträgt 5, 2 Mrd. €, davon geht über eine Milliarde in den Schulhaushalt, also rd. 20 %.
Die Obergrenze der Klassengrößen liegt bei 22,5 Schüler/innen. Die durchschnittlichen Klassengrößen sehen so aus:
Grundschule (1. – 5. Klasse): 14 – 15
Mittelschule (6. – 8. Klasse): 18
Oberschulen (9. – 13. Klasse): 19
GrundschullehrerInnen haben ein Unterrichtsdeputat von 22 Stunden, Mittel- und Oberschullehrer/innen 18 + 2 Stunden.
Lehrerinnen und Lehrer sind Angestellte des Landes Südtirol. Die Einstiegsgehälter (netto) sehen so aus:
Grundschullehrer/innen: 1 500,-
Mittel- und Oberschullehrer/innen: 2 200,-
Maximal können Lehrerinnen und Lehrer 3 200,- € verdienen.
Schüler/innen der Grundschule haben pro Woche 25 + 2 Stunden Unterricht, in der Mittelschule sind es 27 + 2 Stunden.
Die Lehrerbildung findet an den Universitäten statt, auch die der Lehrerinnen an Kitas. Lehrerfortbildung ist kostenlos und seit kurzem verpflichtend.
Die Schulpflicht beträgt 10 Jahre, die Bildungspflicht besteht bis zum 18. Lebensjahr. Alle Schülerinnen und Schüler legen nach der 8.Klasse eine Prüfung ab. Die Anmeldung an der Oberschule ist vom Ergebnis der Prüfung jedoch nicht abhängig.
Alle Kinder, die im Schulsprengel wohnen, besuchen dort die Grund-und Mittelschule. Mit Schließung der Sonderklassen im Jahr 1977 gilt dies auch für Kinder mit Beeinträchtigungen, seit 1987 sind auch die Sonderklassen an den Oberschulen abgeschafft.
Alle Schüler/innen mit Diagnose erhalten einen individuellen Bildungsplan.
Den Klassen stehen ein Klassenlehrer, ein Integrationslehrer (Fachlehrer mit einer einjährigen Zusatzausbildung), der ebenfalls für die ganze Klasse zuständig ist, und ein Mitarbeiter für Integration zur Verfügung.
Durch Sparmaßnahmen ist nicht mehr in jedem Fall eine Doppelbesetzung (Klassenlehrer und Integrationslehrer) gewährleistet. Dies würde, so Ulrike Hofer, Schulleiterin des Schulsprengels Tramin, jedoch durch die geringe Klassengröße kompensiert.
Die Einrichtung von Ganztagsschule steht erst am Anfang. Als Ursache dafür wird die immer noch überwiegend ländliche Struktur des Landes genannt, weshalb bisher kein größerer Bedarf entstanden sei.
Die Schulen sind selbständige „Rechtspersonen“ mit eigenen Autonomierechten in den Bereichen Organisation, Didaktik, Schulentwicklung, Verwaltung und Finanzen. So stehen dem Schulsprengel Tramin (4 Grundschulen und 1 Mittelschule mit 412 Schülerinnen und Schülern) an Sachmitteln 100 000 € zur Verfügung, zudem erhält die Schule ein Überstundenkontingent von 50 000 € und ein Außendienstkontingent von 25 000 €. Über diese Mittel verfügt sie eigenständig.
Die Schulen, die wir gesehen haben (eine Grund- und Mittelschule sowie zwei Berufsbildende Schulen), waren personell und mit Gebäuden und Sachmitteln bestens ausgestattet, was allen Beteiligten bewusst ist und auch immer wieder betont wurde. Offen eingeräumt wurde jedoch auch, dass durch die Wirtschaftskrise seit 2008, von der auch das vergleichsweise reiche Südtirol mit seinen besonderen Autonomierechten betroffen ist, die Schulen mit Sparmaßnahmen zu kämpfen haben.
Südtiroler Konsense
Dennoch: Wir spürten die Zufriedenheit der Kolleginnen und Kollegen über den äußeren Rahmen ihrer Arbeit. Alle Gesprächsteilnehmer bestätigten, dass ein großer gesellschaftlicher Konsens darüber besteht, für Kinder und Jugendliche bestmögliche Lernbedingungen zu schaffen.
Ebenso groß ist der Konsens darüber, dass nichts anderes gewollt ist, als alle Kinder gemeinsam zu unterrichten. Zustimmung dazu haben wir in allen Gesprächen erfahren, ob nun mit der Vertreterin des deutschen Schulamtes, der Vorsitzenden des Bildungsausschusses des Südtiroler Landtages oder mit Kolleginnen und Kollegen der Leitungsebene wie auch in Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen der besuchten Schulen. Die „inklusive Schule ist in Südtirol die normale Schule“ (Frau Dr. Pfeifer, Deutsches Schulamt), „Inklusion wird in unserer Schule als Selbstverständlichkeit gelebt“ (Ulrike Vedovelli, Leiterin der Hauswirtschaftsschule Neumarkt), „Unsere Vorstellung von normaler Schule ist die inklusive Schule“ (Dr. Pfeifer), oder wie es gleichsam zurückhaltend, aber bestimmt Ulrike Hofer, Leiterin des Schulsprengels Tramin, formulierte: „Wir sind dabei, inklusiv zu werden“, um nur einige Zitate als Belege zu nennen.
Zurück zu Sonderklassen wollen nach einer aktuellen Umfrage in Südtirol weniger als 5 % der Bevölkerung. Hier zahlen sich der konsequente Umstieg auf die gemeinsame Schule für ALLE seit den 70er Jahren und die damit gemachten Erfahrungen nachhaltig aus.
Frau Dr. Amhof, die Vorsitzende des Bildungsausschusses, gab im Südtiroler Landtag zum Abschluss ihres ehrlichen und zugleich überzeugenden Plädoyers für ein inklusives Bildungssystem uns ermunternd mit auf den Weg: „Inklusion muss man einfach wagen, anfangs viel Geld in die Hand nehmen, was sich auf jeden Fall auszahlt.“
Mein Fazit aus unserem Besuch:
In Italien/Südtirol ist es gelungen, im Bildungsbereich eine Haltung bei allen Akteuren zu entwickeln, die zu inklusivem pädagogischen Handeln und Denken geführt hat und somit auf der personalen Ebene ein inklusives Gesamtschulsystem erreicht und abgesichert werden konnte, das heute niemand in Frage stellt. Dabei war und ist es nötig, dieses System auch auf der materiellen Ebene abzusichern, d. h. es finanziell so auszustatten, dass die gesellschaftspolitische Grundlegung für ein humanes, nicht selektives Bildungssystem auch dadurch konsensfähig gemacht wurde.
Das gemeinsame Leben und Lernen aller Kinder und Jugendlichen ist in Südtirol Alltagsrealität, die nicht in Frage gestellt ist, auch wenn sie nicht perfekt ist. Es wird nach wie vor großer Anstrengungen bedürfen, das Erreichte zu halten bzw. Weiterentwicklungen zu ermöglichen und zu gestalten. Aber auch darüber besteht Konsens.
Was lernen wir daraus?
- Entscheidender Erfolgsfaktor, inklusive Pädagogik zu realisieren, ist die positive Haltung aller Akteure: Inklusion ist Grundlage allen pädagogischen Handelns, weil sie jedem Kind gerecht wird.
- Oberstes Ziel der Lehrerbildung ist es, diese Haltung zu entwickeln.
- An der Uni müssen Fachleute für Heterogenität ausgebildet werden.
- Die Förderschule wird überflüssig.
- Förderschulpädagogik wird integrierter Teil der Allgemeinen Pädagogik.
- Voraussetzung für Bildungsgerechtigkeit ist die inklusive Schule für ALLE.
- Diese Schule ohne Selektion ist eine Schule der individuellen Förderung aller Kinder und Jugendlichen.
Wie erzielen wir politische Wirkung?
- Längere gemeinsame Schulzeit ohne Selektion als Grundvoraussetzung eines inklusiven Bildungssystems
- Offensiv Linke Mehrheiten – parlamentarisch und außerparlamentarisch – für mehr Inklusion organisieren.
- Grüne und SPD an ihre bildungspolitischen Wurzeln erinnern – direkte Gespräche suchen.
- GEW als Bildungsgewerkschaft muss noch eindeutiger und mutiger Inklusion fordern.
- Gute Beispiele bei uns hervorheben – es geht auch hier, trotz allem!
- Raus aus unseren informellen Insiderdebatten – regionale und überregionale Veranstaltungen mit Betroffenen (Schulen, Eltern- und Schülervertretungen) organisieren.
- Mehr Druck auf die Universitäten ausüben, Inklusion ins Zentrum der Lehrerbildung zu stellen.
- Zentrale Aufgabe des Päd. Landesinstituts muss für die nächsten Jahre sein: Fortbildungsangebote zu Erwerb und Vertiefung inklusiver Kompetenz bereit stellen, alle anderen Bereiche für die nächsten Jahre im Interesse dieser Aufgabe reduzieren resp. zurückstellen.
Größte Hürden
Dass die Landespolitik in ihrer Dreierkoalition, zumindest was SPD und FDP betrifft, kaum handlungswillig, die Grünen auf Grund ihrer Schwäche in der Koalition kaum handlungsfähig sind, ist wohl Fakt. Als aktuellen Beleg will ich aus dem Antwortbrief (21. 10. 2016) von Alexander Schweitzer auf meine kritische Stellungnahme zu seinem Gastkommentar in der FR vom August, folgendes zitieren:
Eingangs weist er meine Kritik an der SPD zurück, es sei nicht genügend „in Richtung mehr individuelle Förderung und längeres gemeinsames Lernen geschehen“ und fährt fort:
„Die SPD-geführten Landesregierungen haben hierfür einen besonnenen Weg der Mitte eingeschlagen, der versucht alle Beteiligten mitzunehmen: Bewährtes wurde beibehalten, Veränderungen wurden – wenn nötig – vorgenommen. Hierzu gehört insbesondere die große Schulstrukturreform im Jahre 2009 mit der Bildung der praxisorientierten Realschule plus, der Erweiterung des Angebots an Integrierten Gesamtschulen, der Absenkung der Klassenmesszahlen und dem Ausbau des Ganztagsschulnetzes.“ Wie er an die sog . Durchlässigkeit unseres Schulsystems glauben kann, wenn er alle existierenden Schularten des Landes aufzählt (außer der Förderschule) und behauptet, damit werde „…ein durchlässiges und leistungsfähiges Schulangebot vorgehalten, das auf Chancengleichheit ausgerichtet ist und Schülerinnen und Schülern Zugang zu allen Bildungsabschlüssen ermöglicht“, erschließt sich womöglich nur ihm selbst.
Das System ist „auf Chancengleichheit ausgerichtet“, will und muss sie aber nicht „garantieren“ – auch das ist die Botschaft.
Ein weiterer Beleg für die bildungspolitische Selbstzufriedenheit und damit den Unwillen, mehr zu tun, ist der Hinweis, an der Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen in den kommenden Jahren Englischunterricht einzuführen, gewissermaßen das I-Tüpfelchen für die versprochene Durchlässigkeit und individuelle Förderung. Bei der Umsetzung von Inklusion sind wir deshalb gut, so behauptet er, weil dies an Schwerpunktschulen geschieht und schon an 16 Förderschulen Förder- und Beratungszentren eingerichtet wurden.
Wie schwierig wird es werden, bei so wenig Selbstkritik, bei so viel Selbstgewissheit und ebenso viel Vergesslichkeit, was die eigenen Wurzeln und Beschlüsse zur Bildungspolitik angeht, unsere Vorstellung erst mal auf die politische Tagesordnung zu setzen, mag jeder ermessen. Allein dazu dürften wir alle unsere schwachen Kräfte benötigen. Dennoch sollte es uns nicht überfordern. Dessen ungeachtet müssen wir es bei jeder sich bietenden Gelegenheit versuchen – bei unseren eigenen Veranstaltungen, bei Gesprächen mit politischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren.
Die „Bildungs-Grand-Tour“ hat sich für mich gelohnt, ich hätte noch bleiben können.
Frieder Bechberger-Derscheidt
Kaiserslautern, 25.10.2016.