Neue Inklusionsverordnung – verpasste Chance

Neue Inklusionsverordnung – verpasste Chance

Ein neues Inklusionszeitalter bricht an. Lange angekündigt, jetzt endlich legt die Bildungsministerin eine erste „Schulordnung für den inklusiven Unterricht an öffentlichen Schulen“ auf den Tisch: Sie will Ordnung ins seit vielen Jahren wild wuchernde inklusive Chaos bringen. Schulen, Lehrkräfte, Bildungsexpert*innen und Kritiker*innen der Bildungspolitik mussten lange auf diese neue Grundlage inklusiver schulischer Arbeit warten. „Wir bauen die Inklusion an unseren Schulen weiter aus“, verkündet die Ministerin optimistisch und stellt zudem, überzeugt von ihrer zurückliegenden Arbeit, fest, dass „schulische Inklusion […] für uns in Rheinland-Pfalz seit jeher ein zentrales Anliegen“ gewesen sei. In der Pressemeldung zur Vorstellung der neuen Verordnung bekennt sie zudem, für sie sei „ein gerechtes Bildungssystem ohne funktionierende inklusive Bildung nicht möglich“. Sie scheint offensichtlich verstanden zu haben, dass der „Ausbau der Inklusion“ überfällig ist. Ein Bravo für diese Erkenntnis, die ihr angesichts der wissenschaftlich festgestellten Defizite, die Rheinland-Pfalz bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) den letzten Platz im Ländervergleich zuweisen, allerdings nicht allzu schwer gefallen sein dürfte. Es kann eigentlich nur vorangehen und alles wird besser werden, suggeriert uns nun die Ministerin. Auf der neuen Inklusionsverordnung gründet ist also das Versprechen auf die Zukunft eines inklusiven rheinland-pfälzischen Bildungssystems. Wir atmen auf, aber noch bevor wir erleichtert über dieses Zukunftsversprechen wieder entspannt ausatmen können, müssen wir feststellen, dass die Inklusionsverordnung zusammen mit einem Zwilling geboren wurde, was in der Schulgeschichte nicht sehr oft geschah. Denn die rheinland-pfälzische Inklusionsrealität brauche genauso eine „modernisierte Förderschulordnung“ in Form einer überarbeiteten „Schulordnung für die öffentlichen Sonderschulen“, die die seit 2000 bestehende Verordnung nun ablösen soll, stellt die Ministerin klar. Beide Rechtsverordnungen sollen gleichzeitig inkrafttreten, um an Schwerpunkt- und Förderschulen „gleichwertige Strukturen zu schaffen und die Umsetzung des Art. 24 UN-BRK nachhaltig zu stärken“, „nachhaltig“ muss es schon sein, garantiert. Schnell werden wir durch die Ministerin aufgeklärt, damit wir nicht auf allzu hoffnungsvolle Gedanken kommen, mit Hilfe der neuen Inklusionsverordnung das bestehende separierende System überwinden zu können. „Wir werden innerhalb der Strukturen das Bewährte erhalten“, stellt sie klar und holt uns auf den Boden der so visionären sozialdemokratischen Bildungspolitik zurück. Da sie das „Bewährte“ nicht weiter erläutert und schon gar nicht hinterfragt, darf man annehmen, dass sie das Nebeneinander von Regel- und Förderschule meint, egal, was das mental, pädagogisch, gesellschaftlich und auch finanziell bisher gekostet hat und weiter kosten wird. Dass das gesamte Aussonderungsritual der „Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs“ im Grund unverändert bleibt, trotz der Beschwörung der schönen schulgesetzlichen Formulierungen (immerhin seit 2014), wonach die Umsetzung der Inklusion eine „allgemeinpädagogische Aufgabe aller Schulen“ darstellt. Die Verordnungsentwürfe beziehen sich schönrednerisch sogar ausdrücklich darauf, allerdings ohne dass daraus Konsequenzen gezogen würden. Auch das sogenannte „vorbehaltlose Wahlrecht der Eltern“ bleibt bestehen wie auch die Möglichkeit, Kinder nicht in die Grundschule, sondern direkt in die Förderschule einzuschulen – an all diesem „Bewährten“, das bisher der von der UN geforderten Inklusion so breitbeinig im Wege steht, wird in beiden Verordnungen festgehalten. Da hilft auch alle beschönigende Wortakrobatik nichts, das Alte wird, leicht aufgehübscht zwar, in seinem schlechten Zustand so belassen, wie es vorher war. Nichts ändert sich grundsätzlich. Außer vielleicht bei der Personalausstattung. Hier wird eine Zusage angedeutet, die aber in ihrer Formulierung eher ins kabarettistische Fach verweist. Mit Bezug, mehr Förderlehrkräfte ausbilden zu wollen – zur Umsetzung von Inklusion sind ja auch ausschließlich Förderschullehrkräfte notwendig – kündigte die Ministerin an, „das Land werde seine Anstrengungen für mehr Ressourcen ausbauen“. Was dieser verschwurbelte Politsprech bedeuten soll, mag zu grüblerischem Nachdenken veranlassen, aber er passt zu all dem Ärgerlichen zuvor wie die Faust aufs Auge.
Die Vorlage dieser Zwillingsveröffentlichung beider Verordnungen ist der endgültige Nachweis, dass Inklusion in Rheinland-Pfalz ein ungeliebtes Kind bleibt. Sie signalisiert keinen Aufbruch für die Schulen, für alle Schulen, ihren Auftrag zu erfüllen, inklusive Konzepte für ihren Alltag zu entwickeln oder gar „Baustein“ zu sein, „um unser gesamtes System voranzubringen“. Sie sind das genaue Gegenteil, weil sie all das festschreiben, was ohnehin seit Jahren problematisch läuft. Die Bemühungen vieler Schulen trotz schlechter Rahmenbedingungen inklusive Konzepte zu realisieren, werden ebenso wenig grundsätzlich verbessert, noch wird den vielen Schulen, die sich bisher dem inklusiven Auftrag verweigern, auf der Grundlage dieser Verordnungen ein Weg hin zu inklusiven Konzepten aufgezeigt oder gar verpflichtend gemacht. Sie können und dürfen so weitermachen wie bisher.
Hätte die Ministerin eine Verordnung vorgelegt oder sogar, wie es im Abschnitt „Gesetzesfolgeabschätzung“ angesprochen wird, „perspektivisch“ überlegt, ob die beiden Verordnungen nicht vielleicht doch „in die bestehende Übergreifende Schulordnung einzubeziehen und zu integrieren“ wären, dann hätte aus dem Vorhaben vielleicht etwas im Sinne der Inklusion werden können. Es wäre dann endlich eine verpflichtende Inklusionsverordnung, eine Schulordnung für alle daraus geworden. Aber dieser zukunftsweisende Gedanke wurde schnell beiseite geschoben – schade, leider aber erwartungsgemäß.
All denjenigen, die Tag für Tag unter den schlechten gegebenen Bedingungen Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichten, möchte ich meine höchste Anerkennung aussprechen. Sie haben sicher auf spürbare Verbesserung ihrer und der ihnen Anvertrauten gehofft. Sie werden vermutlich enttäuscht zurückbleiben. Ebenso soll die Mühe der Kolleg*innen, die im Auftrag ihrer Gewerkschaft, ihrer Verbände oder als Personalräte nun im Rahmen der Anhörung differenzierte und tiefgehende Stellungnahmen abgeben, ausdrücklich anerkannt werden. Sie finden vielleicht die eine oder andere Nuance an kleinschrittiger Verbesserung. Man möge mir nachsehen, dass es mir um den eher grundsätzlichen Blick geht, der mich ziemlich verstört zurücklässt, nachdem die Politik seit der Ratifizierung der UN-BRK (2009), spätestens nach der Schulgesetznovelle 2014 sehr viel Zeit gehabt hätte, das umzusetzen, was sie versprochen hat: Ein inklusives Bildungssystem zu schaffen, das Ausgrenzung und Stigmatisierung ausschließen soll. Warum ist die Politik, obwohl sie dafür Mehrheiten hätte organisieren können, immer noch so feige, diese Entscheidung zu treffen? Was das zuständige Ministerium nun vorgelegt hat, ist nichts weiter als ein neuerliches Eingeständnis, wider besseres Wissen und aus Angst vor Kritik und den lauten Gegnern eines inklusiven Schulsystems erneut das Falsche zu veranlassen. 

Frieder Bechberger-Derscheidt, Kaiserslautern, 25. Juli 2023.