Bericht von der Podiumsdiskussion im Rahmen der INKLUSIVA 2022
Am 2./3. September 2022 fand die INKLUSIVA statt, die Inklusionsmesse aus Rheinland-Pfalz, am Freitag, 2.9., digital und am Samstag, 3.9., auf dem Uni-Campus Mainz. Der Schwerpunktlag in diesem Jahr auf dem Thema „Teilhabe für alle! Wie wollen wir 2030 zusammenleben?“ Im Fokus standen die Bereiche Arbeit, Bildung, Freizeit und Gesundheit.
Zum Bereich Bildung durften wir am 3. September von 11-12.30 Uhr eine Präsenzveranstaltung anbieten, die außerdem als Livestream verfolgt werden konnte. Im Namen unseres Vereins „Eine Schule für alle – länger gemeinsam lernen e.V.“ moderierte Saskia Eckhardt die Podiumsdiskussion mit dem Thema „Blick auf Gelingensbedingungen für schulische Inklusion in RLP“.
Sie begrüßte die Teilnehmer:innen der Diskussion: Dr. Brigitte Schumann, Bildungsjournalistin aus NRW, Lars Strömel von der Brüder-Grimm-Schule in Ingelheim, Elke Schott, Abteilungsleiterin 4B im Bildungsministerium, und Katrin Herter von der IGS Mainz.
Die erste Runde widmete sich dem Sonderpädagogischen Gutachten.
In RLP wird das Verfahren zur Überprüfung und Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs genutzt, um die Zuweisungen zu Förderschule oder Schwerpunktschule zu organisieren. Die Auswirkungen und die Umsetzung in der Praxis sahen die Teilnehmer:innen des Podiums erwartungsgemäß konträr. Während Frau Schott vom BM zum einen darauf verwies, dass das Gutachten auf einem KMK-Beschluss beruhe und deshalb schon nicht im Alleingang abzuschaffen sei, bezeichnete sie es zum anderen aber auch als notwendig, weil eine flächendeckende (sonderpädagogische) Versorgung in Anbetracht der Vielzahl an Schulen nicht zu gewährleisten sei und deshalb auf die Konzentration in Schwerpunktschulen nicht verzichtet werden könne. Matthias Rösch, der Landesbeauftragte für die Belange behinderter Menschen in RLP, fragte nach Alternativen, wie Unterstützungsbedarf festzustellen sei, und zeigte sich besorgt angesichts der wachsenden Exklusionsquote.
Bedenken gegen die Gutachtenpraxis wurden von den übrigen Podiumsteilnehmer:innen geäußert. Genannt wurden die mit dem Gutachten einhergehende Stigmatisierung und Etikettierung, das wissenschaftlich und juristisch unsaubere Diagnoseverfahren sowie die an die Gutachten gekoppelte Ressourcenzuweisung, die als eine der Ursachen für die in den letzten Jahren immer größer werdende Zahl von angeblich lernbehinderten oder in ihrer geistigen Entwicklung beeinträchtigten Kindern gesehen werden müsse. Am deutlichsten sprach sich Brigitte Schumann für eine ersatzlose Abschaffung der sonderpädagogischen Gutachten aus, weil man sie nicht benötige, wenn man den Auftrag der UN-BRK umsetze und allen Kindern einen uneingeschränkten und barrierefreien Zugang zum allgemeinen Schulsystem ermögliche. Auch die für RLP zuletzt rückläufige Inklusionsquote wurde kritisch gesehen.
In diesem Zusammenhang wurde auch die Problematik „Elternwille“ in den Blick genommen.
Das Recht der Eltern von Schüler:innen mit festgestelltem sonderpädagogischem Förderbedarf, in RLP frei entscheiden zu dürfen, ob ihr Kind in einer Förderschule oder in der Inklusion beschult wird, führt dazu, dass neben dem dreigliedrigen Schulsystem ein voll ausgebautes Förderschulsystem aufrechterhalten und das Netz der Schwerpunktschulen ausgebaut wird.
Negative Auswirkungen schilderte zum Beispiel der Konrektor der einzigen SPS-Grundschule im Ingelheimer Raum, die von fünf weiteren Nicht-Schwerpunktschulen vor Ort Kinder mit besonderen Bedarfen zugewiesen bekommt, was bisweilen zu einer ungesunden Ballung von Schwierigkeiten führt. Zudem muss sich die Schule in direkter Nachbarschaft einer Förderschule behaupten. Brigitte Schumann wies erneut auf die UN-BRK hin, die den „Elternwille“ nicht anerkennt, sondern ausschließlich auf die Kinderrechte abhebt.
Als nächsten Schwerpunkt betrachtete das Podium die Lehrkräfteausbildung.
Der Blick in die Zukunft lässt bezüglich der personellen Ausstattung große Herausforderungen erkennen. Mit Blick auf die aktuelle Ausbildung wurde übereinstimmend gefordert, in der Ausbildung der (Grundschul-)Lehrkräfte mehr Kenntnisse über Diagnostik und Fördermöglichkeiten zu vermitteln. Kompetenzen sollten vor Inhalten stehen. Während Frau Schott die breite Palette bereits vorhandener Angebote auffächerte, die es den Studierenden zu verdeutlichen gelte, äußerte sich Brigitte Schumann in ihrer Forderung radikaler: Es dürfe keine getrennten Lehrämter mehr geben, Österreich habe mit der Zusammenführung vorgemacht, wie es gehen könne. Wichtig für inklusives Arbeiten sei die Abschaffung getrennter Ausbildungsgänge für das gegliederte System zugunsten eines allgemeinen Studiums für verschiedene Altersstufen, dem sich dann bei Bedarf eine Spezialisierung anschließen könne.
Aus dem Publikum brachte unser Vorstandsmitglied Ulla Lischber den bei den Runden Tischen oft gehörten Wunsch der Studierenden nach mehr Ausbildung zu Themen der Inklusion und vermehrten praktischen Angeboten zum Ausdruck.
Zum Abschluss bat die Moderatorin um einen Ausblick in die Zukunft.
Frau Herter sah eine positive Einstellung bei vielen Kolleg:innen zu mehr Inklusion, verwies aber auf die Notwendigkeit größerer Kontinuität bei der Personalzuweisung. Diesen Aspekt teilte Herr Strömel; Schulqualität und Schulentwicklung litten unter den momentanen Engpässen. In seiner Wahrnehmung hat sich die Lehrerrolle geändert; gefragt sei nicht mehr der Einzelkämpfer früherer Zeiten, stattdessen werde mehr der Teamplayer benötigt. Frau Schott lobte ebenfalls die große Einsatzbereitschaft und den Veränderungswillen der Lehrerschaft und verwies auf vielfältige Unterstützungssysteme im Land. Sie nannte eine Reihe von Projekten, die es erlaubten, optimistisch in die Schule der Zukunft zu blicken. Diesen optimistischen Blick wollte Brigitte Schumann nicht teilen. Sie vertrat mit großer Entschiedenheit den Standpunkt, eine klare Entscheidung für einen grundsätzlichen Richtungswechsel sei notwendig, und postulierte den Abbau des Sonderschulsystems, den Abbau des gegliederten Systems und die Einrichtung einer Schule für alle, ganz im Sinne der UN-BRK, deren zielgerichteter Umsetzung sich die deutschen Bundesländer leider von Beginn an verweigert hätten – was natürlich von der Vertreterin des Bildungsministeriums heftig bestritten wurde.
Hans Ganß