Die Inhumanität wächst und bedroht die Demokratie
Erfüllt die Schule ihren demokratischen Auftrag angesichts wachsender politischer und gesellschaftlicher Inhumanität?
Das beängstigende Abschmelzen der demokratischen Substanz unserer Gesellschaft fühlen wir täglich mehr, insbesondere die Ressource der Mitmenschlichkeit, der integrierenden Gemeinsamkeit scheint verloren zu gehen. Dieser Verlust begegnet uns alltäglich, auf der politischen Ebene wie im alltäglichen Umfeld. Dass sich seit einem Jahrzehnt eine antidemokratische und gewaltbereite Partei fast ohne Gegenwehr von Staat und Zivilgesellschaft ausbreiten konnte, zeigt vielleicht am gravierendsten diesen demokratischen Substanzverlust. Ihre Wirkung geht aber weit über die Anzahl ihrer Mandate in den deutschen Parlamenten hinaus. Ihr aggressiver Diskurs wird viel zu wenig im Widerspruch aufgefangen oder abgeschwächt, sondern schafft es, die Schwäche der Parteien nutzend, in deren Programmatik und Sprache einzudringen. Besonders deutlich wird dies in der Migrationsdebatte. „Wir müssen endlich in großem Stil abschieben“, überschlägt sich der Bundeskanzler mitleidlos und aggressiv, das Vokabular der AfD offenbar längst verinnerlicht. Über Lindners und Forderungen anderer Populisten, nur noch Sachleistungen zu gewähren bis hin zu den Vorhaben, Migranten zu zwingen, bereits an den EU-Außengrenzen Asylanträge zu stellen und in Lager einzusperren oder sie für viel Geld in afrikanische Staaten in Sammellagern festzuhalten, sind nur weitere Symptome für die wachsende Mitleidlosigkeit und Gewaltbereitschaft unserer Gesellschaft. Ausgrenzung, Diskriminierung und Trennung in Wir und Die bestimmen den gesellschaftlichen und politischen Diskurs nach innen wie nach außen.
Wie stark dieses Gift der Ausgrenzung schon bis zur Basis durchgesickert ist, zeigt ein Vorfall im beschaulichen Kreisstädtchen Kusel in der Westpfalz. Die sich kunstsinnig gebende Leitung der Kreissparkasse lud eine Fotografin ein, ihre Portraitserie betagter Menschen in der Kundenhalle der Sparkasse auszustellen. Nicht allen Kund*innen gefiel es jedoch, die Fotos alter Menschen anschauen zu müssen, deren Gesichter störten die Weihnachtsstimmung, ließen sie die Leitung der Sparkasse wissen. Kundenfreundlich schnell reagierte die Sparkassenleitung und ließ die Fotos, ohne die Autorin zu informieren, wieder abhängen. Zum Glück löste das einen Sturm der Empörung aus. Die Sparkasse wolle, so ihre nachträgliche Erklärung für diese Zensurmaßnahme, „in der vorweihnachtlichen Zeit einen positiven Ort für unsere Kundinnen und Kunden schaffen“, deshalb habe sie die Portraits wieder abgehängt, versuchte die Bank zu erklären, was ihr Verhalten nur noch verschlimmerte. Langatmige, peinliche Entschuldigungen für diesen Missgriff folgten. Alte Menschen wolle man keineswegs diskriminieren, im Gegenteil, die Bank sei für Senioren da, „das ist Unternehmenspolitik“, weist die Bank solche Verdächtigungen zurück. Aber genau das hatte sie getan. Erfreulich, dass eine Nachbargemeinde sofort einsprang und die Fotos beim Neujahrsempfang zeigte, auch das Sozialministerium in Mainz kündigte an, die Portraits in seinen Räumen auszustellen.
Widerspreche ich mit diesem Vorfall, der letztlich ein mitfühlendes und empathisches Ende fand und die Diskriminierung zu kompensieren versuchte, meiner vorherigen Behauptung, unser Umgang miteinander sei aggressiver, mitleidloser, inhumaner und spalterischer geworden? Auf den ersten Blick vielleicht. Das vermeintlich Geschäftsinteressen dienende Verhalten der Verantwortlichen bestätigt mich aber und erschüttert mich immer noch. Wie kann ein dienstleistendes Unternehmen, das täglich mit Menschen der unterschiedlichsten Art umgehen muss, sich zu einer solchen Handlung offener Diskriminierung entschließen, nur weil einige Kund*innen die Gesichter alter Menschen als „unweihnachtlich“ bezeichnen und sich angegriffen und gestört fühlen? Es ist der Ungeist der Ausgrenzung, der zu solchem Verhalten führt. Er sitzt nicht mehr nur tief in uns, eingekapselt und versteckt, nein, diese die Demokratie und die Menschlichkeit gefährdende Haltung ist zur miesen Handlung parat, sofort präsent und spontan abrufbar.
Angestachelt durch die tagtägliche Hetze der Rechten, vor der auch die Parteioberen der sogenannten bürgerlichen Parteien nicht zurückschrecken, sind immer mehr Menschen bereit, andere als minderwertig und gering einzuschätzen, sie zu diskriminieren. Wilhelm Heitmeyer hat schon 2011 in einem ZEIT-Artikel von „Roher Bürgerlichkeit“ gesprochen, die „sich aus dem Zusammenspiel von glatter Stilfassade, vornehm rabiater Rhetorik sowie autoritäre aggressive Einstellungen und Haltungen (ergibt). Sie findet ihren Ausdruck in einem Jargon der Verachtung gegenüber schwachen Gruppen und der rigorosen Verteidigung bzw. Einforderung eigener Etabliertenvorrechte im Duktus der Überlegenheit. Sie artikuliert sich über eine Ideologie der Ungleichwertigkeit“. Die „rohe Bürgerlichkeit“ komme verdeckt daher und habe „viel öffentlichen Einfluss […] in Institutionen, Clubs und Medien, also auf das öffentliche Klima. Der rohen Bürgerlichkeit entgeht vielfach das Gefühl der verschiedenen Formen von Gerechtigkeit, Solidarität und Fairness, die nicht an Effizienz, Nützlichkeit und Verwertbarkeit gekoppelt ist“ (DIE ZEIT/39/2011).
Die nun 13 Jahre alte Diagnose kann nur bestätigt werden beziehungsweise hat sich weiter verschärft. Die Forderung nach „Remigration“, diesem verschleiernden Begriff für Vertreibung und Verdrängung, der aber nichts weiter formuliert, was AfD und ihre rechten und faschistischen Gesinnungsgenoss*innen immer schon forderten, hat die demokratisch Gesinnten der Republik im Januar 2024 aufgeschreckt und vielleicht auch ein wenig zusammenrücken und abwehrbereiter werden lassen. Die Heuchelei in den Reaktionen sollte aber nicht übersehen werden, denn sowohl die Ampelparteien wie auch die CDU haben sich in den letzten Monaten in gruseligen Vorschlägen geradezu überschlagen, was alles unternommen werden müsse, um der „Asylantenflut“ Herr zu werden. Vom Recht auf Asyl ist jedenfalls nicht mehr viel übrig geblieben. Insofern bin ich nicht überzeugt, dass die „rohe Bürgerlichkeit“ nur die Gesinnung der AfD-Wähler*innen und deren rechtsextreme Verbündete beherrscht.
Dieses Denken zu überwinden, ist in besonderer Weise ein Auftrag der Bildung, ihrer Organisation und ihrer Inhalte. Hier auf die ersten Paragraphen des geltenden rheinland-pfälzischen Schulgesetzes hinzuweisen, liegt nahe. Dort ist vieles formuliert, was grundlegend sein sollte für eine menschliche und solidarische Gesellschaft. Was die Inhalte von Schule angeht, so erschrickt die Feststellung des Bildungsforschers Thomas Kliche in einem Rheinpfalz-Interview zur Radikalisierung und dem Anwachsen der AfD. Die Rheinpfalz fragt Kliche, was in unserer Gesellschaft „in Schieflage“ geraten sei und wo es Gegengewichte geben sollte. Kliche nimmt in seiner Antwort auch das Bildungssystem in die Pflicht, stellt ihm diesbezüglich aber ein miserables Zeugnis aus: „Unser Bildungssystem ist nur ein schwaches Gegengewicht, es hat Moralentwicklung nie als vorrangiges Ziel betrachtet. Das sieht man an der Randstellung von politischer Bildung und autonomem Lernen. Sowieso: Ginge es dieser Gesellschaft um Moral, hätten wir eine ganz andere, fürsorgliche, solidarische Lebensweise statt weltweiter Zerstörung der Biosphäre. Egoismus ist ein Fundament unserer Konkurrenz- und Konsumgesellschaft und den radikalisieren die Extremisten einfach“ (Die Rheinpfalz/17.01.2024).
Schüler*innen von Anfang an so zu bilden, dass sie resistent gegen Menschenfeindlichkeit und Diskriminierung werden, ist ein zentraler Auftrag der Schule insgesamt, nicht nur der vermeintlich dafür vorgesehenen Fächer. Dazu sollte zum Beispiel auch der jährlich stattfindende sogenannte Schulbesuchstag von Abgeordneten jeweils am 9. November dienen. Im November 2017 – ja, es liegt schon einige Jahre zurück, erscheint mir aber dennoch symptomatisch – hatten sich einige Schulen geweigert, AfD-Abgeordnete einzuladen, worüber diese sich mit dem Argument beim Bildungsministerium beschwerten, die Schulen hätten das Neutralitätsgebot verletzt. Statt die Schulen zu unterstützen, die keinen Demokratiefeinden Raum geben wollten, war das Ministerium eilfertig bereit, der AfD zu versichern, die Schulen würden belehrt, wie sie im nächsten Jahr zu verfahren hätten. Das hochpolitische und ganz im Sinne unserer Demokratie dienende Verhalten der Schulen, Verfassungsgegnern keine Plattform zu bieten, fand in Regierung und Verwaltung weder Anerkennung noch Unterstützung, sondern führte zu Resignation und mehrfach zu dem Beschluss, sich nicht mehr an diesem Schulbesuchstag zu beteiligen.
Kliche hat schon recht: Dieser Auftrag ist randständig, der Erwerb sozialer Kompetenzen ebenso, der Primat der fachlichen Kompetenz ist unerbittliche Priorität. Symptomatisch dafür stehen gerade auch die PISA-Vergleichsstudien. Hier werden seit zwei Jahrzehnten Leistungsvergleiche in den sogenannten Kernfächern durchgeführt, nichts sonst. Die deutschen Schüler*innen schnitten bei der letzten Untersuchung wiederum schlecht ab. Für diesen Niedergang mussten also schnell Schuldige gesucht werden: Die Kinder der Migrant*innen seien das Übel, brüllten viele Kommentator*innen den Bildungsminister*innen ins Gesicht. Raus aus den Schulen mit diesen Kindern, damit die deutschen Kinder und Jugendlichen nicht weiter in ihrem Lernprozess gestört und aufgehalten werden. Den übelsten Kommentar, den ich in der Berichterstattung zu PISA 2022 lesen musste, lieferte Kerstin Münstermann vom Trierischen Volksfreund ab. Sie betitelte ihn in BILD-Manier „Das alarmierende deutsche Bildungsdesaster“ und benennt zwar zuerst die „Schulschließungen während der Corona-Pandemie“ als „noch entschuldbaren“ Fehler. Der nächste Fehler als Ursache für das schlechte Abschneiden aber ist für sie unverzeihlich, für ihn trägt allein „die Politik die Verantwortung: die sogenannte Heterogenität der Schüler. Das Migrationsproblem wird in Deutschland an die Schulen verlagert, Lehrer, Rektoren, Eltern und vor allem die Schüler müssen es ausbaden“. Ihre Schlussfolgerungen lässt keine andere Lösung zu: „Auch für das Bildungswesen gilt: Die Eindämmung der Migration hilft auch den Schulen. Und die Idee, die Klassen nicht aufzuteilen nach Sprach- und Leistungsstufen, hat sich erledigt. Sonst fallen alle zurück“ (Trierischer Volksfreund/8.12.23). Mal abgesehen von ihrem pädagogischen Stammtischwissen, wäre sie als Sprecherin der „rohen Bürgerlichkeit“ bestens geeignet. Trennung und Abweisung vor allem fallen dieser Bildungsexpertin ein, aggressiv, unmenschlich, mitleidlos.
Nicht ganz so rabiat äußert sich die Bundesvorsitzende des Philologenverbandes, Susanne Lin-Klitzing, in einem Rheinpfalz-Interview. Auch sie verweist als eine der möglichen Ursachen des Leistungsabfalls auf die gestiegene Zahl von Migrantenkindern. Aber sie kann hier „nur mutmaßen“, hält sich also deutlich zurück. Sie legt ihren Schwerpunkt darauf, dass in unserem System die jeweiligen Schularten – das Gymnasium für die „Spitzenförderung“, die nicht gymnasialen Schularten für „Basiskompetenzen“ – ihre unterschiedlichen Aufgaben nicht zufriedenstellend erfüllten. Für ein dreizügiges Gymnasium(!) schlägt sie deshalb vor, „die guten, die mittleren und die schwächeren Schüler von je einem Lehrer“ betreuen zu lassen. Sie glaubt, dass damit „endlich die Spitzenförderung auf eine breitere Ebene gestellt“ wäre. Sie untermauert diesen Gedankengang mit der für sie wohl unumstößlichen Feststellung, wonach „die Vorstellung, dass die Förderung besser gelingt, wenn alle zusammen sind, sich als Illusion erwiesen“ habe. Die Professorin „für Schulpädagogik für die gymnasiale Lehrerbildung“ an der Uni Marburg, die die Ausgrenzung weicher betreibt, aber eine andere Lösung will auch sie nicht sehen, oder sie unterliegt einer Wahrnehmungsstörung. Denn sie hat bei den PISA-Ergebnissen, auf die sich hier ja alles bezieht, weggeschaut oder sich ihnen einfach verweigert. Sie hätte mühelos feststellen können, dass keines der Länder, die besser oder viel besser als Deutschland abgeschnitten haben, ein auslesendes Schulsystem hat. Das im europäischen Vergleich beste Land ist Estland, und dort lernen Schüler*innen neun Jahre gemeinsam. Ausdrücklich wird dieses lange gemeinsame Lernen als wesentlicher Grund für das nicht zum ersten Mal gute Ergebnis Estlands genannt. Darum sei die estnische PISA-Expertin zitiert: „Wir achten bei unseren Kindern darauf, dass alle hinterherkommen. Diejenigen, die mehr Hilfe brauchen, profitieren von individueller Unterstützung.“ Dies würde „am Ende dazu führen, dass es weniger schwache Schülerinnen und Schüler gebe – dafür eine starke Spitze mit sehr guten akademischen Leistungen“ (Tagesschau/05.12.2023). Frau Lin-Klitzing, wie viele andere, die sich Schule nur als Ausleseapparat, als hierarchische Verteilungsmaschinerie vorstellen können mit all den gefährlichen gesellschaftlichen Folgen, verweigert sich der Erkenntnis, dass Schule eigentlich der Ort sein müsste, in dem Kinder aus unterschiedlichsten Herkünften zusammengeführt und möglichst lange und individuell gefördert einen gemeinsamen Weg gehen sollten, hoffentlich als künftige Demokraten und nicht nur als Konkurrenten.
Gerade die Heterogenität, mit der wir uns nicht nur in der Schule so schwer tun, ist die pädagogische und gesellschaftliche Chance für ein humanes Zusammenleben. Obwohl die verfassungsmäßigen Grundlagen und unsere Schulgesetze sich mit Gesetzestexten darauf beziehen, scheint, von wohltuenden Ausnahmen abgesehen, das real existierende Schulsystem zäh und unverdrossen ihre Umsetzung zu verhindern. Tatkräftig unterstützt von feiger Politik und lauten Verbänden, denen Interessenvertretung ja zugestanden sei, aber nicht Erkenntnisverweigerung zum einzigen Zweck, die eigene Bastion verteidigen zu wollen und damit die gesellschaftliche Spaltung weiter voranzutreiben.
Die Erkenntnisse, wie Schule sein müsste in einer demokratischen Gesellschaft und wie sie auf den Einzelnen und die Gesellschaft insgesamt wirken, ist neben den Erkenntnissen zu den Folgen der menschengemachten Klimaerwärmung der zweite Bereich, in dem Politik beharrlich wider besseres Wissen handelt und somit versagt, ungestraft und ohne die Hoffnung, dass sich dies ändern würde. Im Gegenteil, wir erleben derzeit bitter, dass die Kräfte wachsen, die sich machtvoll diesen Erkenntnissen entgegenstellen. Wenn wir als Demokraten den faschistischen Furor der AfD und ihrer Verbündeten zurückdrängen wollen, müssen wir die Schule als demokratischen und Gemeinschaft stiftenden Kernbereich einer humanen Gesellschaft viel stärker in den Blick nehmen, sie unterstützen und sie so ausgestalten, dass alle eine Chance haben, sich zu entwickeln und nicht befürchten müssen, ausgelesen, weggeschickt, benachteiligt zu werden.
KL, 22.01.2024
Frieder Bechberger-Derscheidt