Selbstlob stinkt

Selbstlob stinkt!

Selbstlob stinkt …

… hat man früher mal gesagt. Vor allem wenn es zu viel ist, und erst recht, wenn das Selbstlob sich auf „Erfolge“ bezieht, für deren Gewährleistung man als Regierungskoalition eigentlich bereits seit Jahren die Verantwortung trägt.

Damit sollen die erzielten Verbesserungen – soweit sie messbar sind – nicht kleingeredet werden. Selbstverständlich registrieren wir die Steigerung der Ausgaben im Bildungsbereich um 700 Millionen Euro, die im Haushaltsjahr 2021 vorgesehenen (!) zusätzlichen 378 Planstellen für Lehrkräfte sowie den geplanten (!) Ausbau des Vertretungspools auf 1625 beamtete Lehrkräfte sowie die geplante (!) Schaffung weiterer 100 neuer Stellen hierfür – alles positive Signale, wenn die Maßnahmen denn umgesetzt werden.

Selbstverständlich registrieren wir, dass die Landesregierung für die digitale Bildung und den Ausbau der digitalen Infrastruktur viel Geld zur Verfügung stellt. Man sollte sich jedoch nichts vormachen: Nur, weil man Geld ins Schaufenster legt, sind die Vorhaben noch lange nicht verwirklicht. Wenn alle Schulen plötzlich Endgeräte haben sollen, kommt die Produktion nicht hinterher, die Auslieferung wird sich noch weit ins Jahr 2021 hineinziehen. Wenn alle Schulen gleichzeitig ans schnelle Internet angeschlossen und die WLAN-Netze der Schulen ausgebaut werden sollen, gibt es nicht von eben auf gleich die benötigten Fachfirmen in entsprechender Zahl. Auch hier dürfte noch langes Warten angesagt sein.

Und von tragfähigen Internet-Plattformen sind wir auch in Rheinland-Pfalz noch weit entfernt.

SMART-Ziele …

… statt vager, unpräziser Absichtserklärungen! In den „Aufforderungen“ des rheinland-pfälzischen Landtags an die Landesregierung werden keine klaren Ziele formuliert, sondern eher Absichten, Wünsche oder Hoffnungen.

Die rheinland-pfälzischen Schulen sind gezwungen – teils gegen große traditionelle Widerstände und mit vielen Anstrengungen –, für die geforderte Qualitätsentwicklung „Ziele“ von gut gemeinten Absichten, schönen Wünschen und vagen Hoffnungen unterscheiden zu lernen; sie mussten lernen, was ein Ziel zum Ziel macht.

Sie lernten, dass die Buchstaben «SMART» für «spezifisch, messbar, akzeptiert, realistisch und terminiert» stehen und welche Bedeutung und Relevanz die einzelnen Begriffe für eine effektive und nachprüfbare Weiterentwicklung der Schulen haben.

Wir wünschen uns, dass auch in der Politik dieselben Maßstäbe an die Absichtserklärungen für die kommende Legislaturperiode angelegt werden! Stattdessen sind die verwendeten Verben so relativierend, dass ein Nichtstun niemals auffallen würde: vorantreiben, gestalten, weiter verfolgen, nachhaltig unterstützen, anbieten, vertraut machen – das alles sind Worthülsen, leere Phrasen, weil ohne inhaltlichen und zeitlichen Handlungsrahmen überhaupt nicht evaluierbar.

Wir wünschen uns eine verantwortungsbewusste Bildungspolitik in diesem Land, die auch den Mut aufbringt, die Realisierung ihrer Ziele einer objektiven Evaluation zu unterziehen.

Die geschaffene Bildungsungleichheit durch eine skandalöse Abhängigkeit des Bildungserfolgs von sozialer Herkunft (vergleiche FES-Studie „Lehren aus der Pandemie. Gleiche Chancen für alle Kinder und Jugendlichen sichern“) soll durch eine materielle Maßnahme (Bereitstellung digitaler Endgeräte für alle Schulkinder und Lehrkräfte) beseitigt werden. Vernachlässigt beziehungsweise nicht beachtet wurde und wird,

  • dass der bürokratische Aufwand zur Generierung zugesagter Fördermittel zu massiven Realisierungsbehinderungen führte;
  • dass im Rahmen einer auf Freiwilligkeit beruhenden Lehrkräftefortbildung (mit einer großen Zahl vor dem Ruhestand stehender Lehrkräfte) massive Defizite in der digitalen Kompetenz innerhalb der Lehrerschaft nicht behoben werden;
  • dass die Beseitigung grundsätzlicher Defizite in unserem Bildungssystem nicht durch eine als Allheilmittel plötzlich auftauchende Digitalisierungswelle gelingen kann;
  • dass bereits eine Vielzahl wissenschaftlich gesicherter und belastbarer Erkenntnisse zu den Ursachen für die immer noch unerträglich hohe und bereichsweise menschenrechtswidrige Abhängigkeit zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft vorliegen, sodass ein begründetes und verantwortungs-bewusstes Politikhandeln längst geboten ist!

Zu nennen sind hier die in unserer Schulstruktur vielfältigsten Mechanismen (Zurückstellung vom Schulbesuch; hartnäckige Verwendung eines Zensurensystems, das weder valide noch reliabel ist, entsprechend auch keine Prognosegültigkeit aufweist; Grundschulempfehlung mit anschließender Verhinderung von längerem gemeinsamen Lernen; Zurückstellung in die nächstniedrigere Klassenstufe; Nichtversetzung; Abschulung; Ausschulung; Selektion in die Förderschule …), mit denen unsere Schüler*innen nach ihren vermuteten Leistungsfähigkeiten sortiert werden, um sie in dementsprechend vermeintlich homogenen Schularten / Lerngruppen angeblich besser fördern zu können, statt sie von den deutlich positiveren Effekten einer heterogenen Lerngemeinschaft profitieren zu lassen. Letzteres führt nachweislich zu besseren Lernergebnissen (vgl. Ergebnisse des kooperativen Lernens in den PRIMUS-Schulen, vor allem der PRIMUS-Schule Berg Fidel in Münster; vgl. Ergebnisse der IQB-Studie. In: Süddeutsche.de v. 7.5.2014; vgl. Feyerer 1998; Preuss-Lausitz 2009; Wocken 1999; “Integration macht schlau!”(Hüther)) und stärkt zudem angesichts bedrohlicher Zersplitterungstendenzen in unserer demokratischen Gesellschaft die notwendige positive Erfahrung von Gemeinschaft.

Erforderliche Konsequenzen wurden jedoch weitgehend unterlassen, weil die Befunde in Frage gestellt werden oder man krampfhaft am Status quo festhalten will, um Besitzstände zu wahren. (Allerdings gibt es keine erkennbaren politischen Initiativen für eine erneute Überprüfung der vorliegenden Befunde, um dann Maßnahmen zur Verringerung von Bildungsungerechtigkeit einleiten zu können.)

Wir dürfen nicht aus dem Blick lassen, dass bei aller eventuellen Bemühtheit, auch materielle Bedingungen zu verbessern, der absolut zentrale Veränderungsbedarf bei der Lehrerkompetenz liegt: vor allem die Überwindung der auf Homogenität ausgerichteten Unterrichtsskripte zugunsten einer gesteigerten Professionalität im Umgang mit Heterogenität, um diese für den Lernerfolg und die Reduktion von Bildungsungerechtigkeit nutzbar zu machen.

Unter der Prämisse “Ungleiches ungleich behandeln” fordern wir folgende Konsequenzen:

  • auf der Ebene der Schulen:
    Schulen müssen nach standardisierten Kriterien (zum Beispiel Migrationsanteil, Einkommens- und wohnliche Strukturen, Bildungsstand der Eltern und vieles andere mehr) mit einem Sozialindex versehen werden; dementsprechend werden die zur Verfügung stehenden Ressourcen (um-)verteilt. Was bislang nur als Projekt mit nur einigen Schulen begonnen wurde, ist dringend auf alle Schulen in herausfordernder Lage zu übertragen und als Konzept nachhaltig zu implementieren.
  • auf der Ebene der Kinder und Jugendlichen:
    Mit der selbstverständlichen Heterogenität kann nur angemessen umgehen, wer über professionelle diagnostische Kompetenzen verfügt. Diagnostik gehört in den Schulalltag, regelmäßige, individuelle, professionelle Diagnosen zusammen mit Lern- und Entwicklungsgesprächen gehören zum Handwerkszeug einer jeden Lehrkraft. Gewonnene Erkenntnisse müssen in Förderpläne mit individuellen Förderangeboten einfließen und zu entsprechenden Lernsituationen (kleinere Lerngruppen, konstante Bezugspersonen, flexible Lernzeiten…) führen.
  • auf der Ebene der Leistungsmessung und -bewertung:
    Konsequenterweise kann es keine numerischen Messlatten (Ziffernnoten und ähnliches) mehr geben. Die individuellen Beiträge und Lernfortschritte der Schüler*innen müssen gewürdigt und aufmerksam beobachtet werden, zahlreiche Gelegenheiten für die individuelle Leistungserbringung sind zu nutzen. An die Stelle von ständiger Bewertung tritt Beratung in offenen Entwicklungsgesprächen. An die Stelle von Zeugnissen, die ausschließlich auf Ziffernnoten setzen, treten Entwicklungsberichte und Kompetenzprofile. ‘Sitzenbleiben’ wird überflüssig.
  • auf der Ebene der Lehrpläne / Curricula:
    Es muss einen Paradigmenwechsel in den Lehrplänen geben. Sie sind fachwissenschaftlich überfrachtet, weshalb eine Entrümpelung notwendig ist. Sie müssen fächerübergreifend stärker an angestrebten Kompetenzen orientiert werden und auf einer inklusiven Didaktik basieren.

Die in den letzten drei Bereichen genannten Forderungen müssen adäquat in eine inklusive Lehrerbildung einfließen.